@ Sagitta (Schauungen & Prophezeiungen)

Ulrich ⌂, München-Pasing, Dienstag, 03.11.2015, 00:18 (vor 3103 Tagen) @ Sagitta (2441 Aufrufe)

Hallo Sagitta,

Nur die Ekstatische von Tours, auf die dankenswerterweise Ulrich im vergangenen Juni hingewiesen hat, hat die Puzzlestücke vereint

Das Pseudonym des Herausgebers, "Paul de Jésus", ist so wenig originell wie die Frömmeleien des Textes. Da hilft es auch nicht, den Text mit dem Etikett "Tiers Ordre de Saint-Francois" zu versehen, somit auf die gleiche Herkunft, den gleichen Orden zu verweisen, dem auch Marie-Julie Jahenny angehörte. Dieser Text diente m.E. nur der nachträglichen Untermauerung von Jahennys Prophezeiungen, als reale Person scheint die "Ekstatische von Tours" weniger Spuren hinterlassen zu haben als der Yeti.


Habe mir inzwischen eine weitere (private) Tonne eingerichtet, Größe XXL, in der ich speziell den katholischen Quellen-Sondermüll entsorge, weil...

1701 wurde mit der Schrift "Prophetia de terribili lucta Austri et Aquilonis..." ("Kloster Werl"/Köln) eine "Prophezeiung" in Umlauf gebracht, dessen apokalyptische Aussagen bis heute Fiktion geblieben sind, aber vielen nachfolgenden Texten als Vorlage diente.

Im gleichen Jahr, ebenfalls 1701 aber aus ganz anderer Perspektive, veröffentlichte Robert Fleming der Jüngere ( https://en.wikipedia.org/wiki/Robert_Fleming_the_younger ), ein schottischer prebyterianischer Pfarrer, eine Schrift unter dem Titel: "Apocalyptical Key. An extraordinary Discourse on the Rise and Fall of Papacy." http://www.andrews.edu/library/car/cardigital/digitized/documents/b12849182.pdf

Fleming mimte weder den Propheten noch den Visionär sondern berief sich schlicht auf sein "Studium der heiligen Schrift und der Geschichte".

Anders als "Prophetia de terribili..." und nachfolgende Texte bis zum heutigen Tag, die fast jeden sich abzeichnenden oder beginnenden Krieg als Vorzeichen der heraufdämmernden eschatologischen Endschlacht deuteten, erstreckte sich Flemings zeitlicher Horizont seiner Interpretation einer "apokalyptischen Geschichte" bis zum Jahr 2.700.

Im Verlauf der Jahrhunderte bezog die katholische Interpretation "Gog und Magog" mal auf die Avaren, die Tartaren, die Türken, aber die Endschlacht blieb weiterhin Fiktion.

Flemings "Apocalyptical Key" dagegen kündigte an, und zwar bereits 1701:

1) "bis spätestens 1794" den Untergang der französischen Monarchie

2) "about the year 1848" einen fatalen, wenn auch nicht endgültigen Schlag gegen das Papsttum
( "Nach der Ermordung des päpstlichen Ministerpräsidenten Pellegrino Rossi durch revolutionäre Rebellen am 15. November 1848 sah sich Papst Pius IX. am 23./24. November zur Flucht aus Rom veranlasst und setzte sich nach Gaeta an der Küste Neapel-Siziliens ab. ... Die italienischen Unabhängigkeitskriege endeten im September 1870 mit der Eroberung Roms (20.9., Breccia di Porta Pia) durch Truppen unter General Raffaele Cadorna. Wegen des Deutsch-Französischen Kriegs konnte Frankreich den Papst nicht wie vereinbart schützen. Der Kirchenstaat hatte aufgehört zu existieren, der Papst besaß jetzt kein eigenes Staatsgebiet mehr. Er betrachtete sich – unter nomineller Wahrung seiner Rechte – als „Gefangener im Vatikan“. https://de.wikipedia.org/wiki/Italienische_Unabh%C3%A4ngigkeitskriege )

3) den Untergang des Osmanischen Reiches in der "zweiten Hälfte des 19.Jh."

4) Ereignisse in der "zweiten Hälfte des 20.Jh.", die zum endgültigen Niedergang des Papsttums, aber zu einem Aufblühen der christlichen Idee führen

( http://www.moellerhaus.com/fleming.htm )


Ab 1870, nachdem sich 1) und 2) bereits bestätigten, stellten die Prophezeiungen aus katholischem Umfeld der für sie unerfreulichen Ankündigung 4) gegenüber, was man so oder so ähnlich schon einige Jahrhunderte zuvor lesen konnte:

- eschatologische Endschlacht incl. 3TF und Theater-Donner,
- Kaiserkrönung. Durch den Papst, wen sonst.
- Erstarken der Kirche. Der katholischen, welche sonst.

Daß inzwischen die Russen die "freigewordene" Rolle der "Völker des Ostens" (vormals Avaren, Tartaren, Türken) einnehmen, bietet sich an, passt außerdem zum Fatima-Schwindel.

Bart Van der Herten veröffentlichte 1994 die Schrift "Het begin van het einde. Eschatologische interpretaties van de Franse revolutie." ( https://books.google.de/books?id=8K3phiUKZhMC ), mit der er einen Überblick der eschatologischen Geschichtsdeutung nicht nur der katholischen, sondern auch der protestantischen und anglikanischen Kirche zu geben versuchte und die Veränderung des "typischen" Inhalts der Texte der jeweiligen Zeit herausarbeitete.
(Wer sich das antun mag: PN, ich kann das Buch derzeit entbehren.)

Im Rahmen dieser jeweiligen Vereins-Propaganda betrachtet, fällt es mir zunehmend schwerer, solcherart "Prophezeiungen" ernst zu nehmen.

Gruß
Ulrich


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