Odilie (Schauungen & Prophezeiungen)

Sagitta, Sonntag, 18.10.2015, 16:31 (vor 3115 Tagen) @ Taurec (6322 Aufrufe)

Hallo Taurec,

vielen Dank für das Einstellen der drei Quellentexte aus dem Buch von Emrich!

Randomizer hatte ja die Hypothese in den Raum gestellt, dass die Prophezeiung der Odilie mit den Feldpostbriefen in einem Zusammenhang stehen könnte. Anlass war ihm wohl die räumliche und zeitliche Identität: die Region Colmar zu Beginn des Ersten Weltkrieges.

Ich selbst bin aus einer anderen Frage heraus dieser Sache nun nachgegangen: wenn die Feldpostbriefe ein "Fabrikat" der ersten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg wären (ich weiß: eine sehr ketzerische Ansicht!), könnte es dann sein, dass sie von der Odilienprophezeiung beeinflußt sind? Denn Letztere war durch die Schriften von Louis Emrich kurz vor und nach dem Zweiten Weltkrieg wieder bekannt geworden, nachdem sie über zwei Jahrzehnte hinweg ziemlich in Vergessenheit geraten war.

Für beide Fragestellungen gibt es meines Erachtens keine positive Antwort und sie sollten deshalb verworfen werden.

Die Feldpostbriefe, wenn sie tatsächlich 1914 geschrieben wurden, sind dann nämlich fast zwei Jahre vor der Herausgabe der Odilie (durch Georges Stoffler im Sommer 1916) entstanden. Der "elsässiche Prophet" der Prophet, der in den Feldpostbriefen zwei Jahre zuvor also deutsche Soldaten angesprochen hat, könnte durchaus auch die Odilie angeregt haben (direkter oder indirekter Kontakt zu Stoffler). Es sind aber inhaltliche Identitäten zwischen den beiden Texten kaum vorhanden. Und insofern müßte die Hypothese von Randomizer zurückgewiesen werden. Die Odilie enthält überwiegend Allgemeinplätze und Standardfromulierungen der Prophezeiungsliteratur, während die Feldpostbriefe eine Fülle von außergewöhnlichen Details und Aussagen bieten. Die Feldpostbriefe haben somit zeitlich und inhaltlich einen höheren Rang. Es könnte allenfalls sein, dass der Prophet der Feldpostbriefe auch anderen Menschen gegenüber in sehr generellen Worten die Zukunft beschrieben hat - und dass derartige Aussagen dann von Stoffler in Form der Odilienprophezeiung veröffentlicht wurden (wiederum als „Fabrikat“).

Mich selbst beschäftigt die Frage, woher die Feldpostbriefe die Idee haben, dass „am Ende Russland noch Deutschland überfällt, aber nur kurz …“. Hier kann eindeutig gesagt werden, dass das nicht aus der Odilienprophezeiung stammt, denn Letztere erwähnt Russland mit keinem einzigen Wort.

Bei der Interpretation der Odilie sollte man m.E. eine klare zeitliche Position beziehen. Man sollte sie zunächst mit Augen des Jahres 1916 betrachten, und sie ist dann die fiktive Aussage einer Frau, die mehr als 1200 Jahre (!!) zuvor gelebt hat (das Land „Germanien“ in der Auffassung von 1900 gab es damals noch gar nicht). Von daher weiss der Leser der Prophezeiung nicht, was mit dem „grösseren Krieg“ gemeint ist, der auf einen „schrecklichen Krieg“ folgt (beide Male ist aber wohl Deutschland an diesen Kriegen beteiligt). Aus der Sicht von 1916 dürfte hier der Krieg von 1871 gemeint sein, dem nun der Krieg von 1916 folgt. Bei einer solchen Interpretation kommt die Prophezeiung gar nicht gut weg, denn dann ist sie in vielen Teilen falsch. Jedoch ist sie in der Hauptaussage richtig, dass Deutschland nach anfänglichem Sieg unterliegt – allerdings wird Deutschland nicht in 32 kleine Staaten zerteilt wird. Aus der Sicht von 1916 ist somit die Odilie ein Machwerk, das die Hoffnung wecken soll, dass Frankreich den aktuellen Krieg gewinnt: Lutetia, also Paris wird verschont bleiben etc.

Liest man nun die Prophezeiung im Jahr 1938/39, so sieht das Ganze etwas anders aus. Dann kann man argumentieren, der „schreckliche Krieg“ sei der erste Weltkrieg gewesen, und der noch „größere Krieg“ stünde dann unmittelbar bevor. In diesem Sinne wurde die Odilie von Louis Emrich in seinen Prophezeiungen und Mahnungen verwendet, die er unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg veröffentlichte. Und auch auf der französischen Seite spielte der Text während des Zweiten Weltkrieges ebenfalls wieder eine gewisse Rolle, etwa in der Resistance. Es finden sich sogar Zitate aus der Odilie bei Albert Camus. Beide Seiten konnten also die Odilie wieder für ihre Zwecke gebrauchen.

Wenn man die Odilie also mit den Augen der 1940er Jahre liest, dann mögen einem bestimmte Details auffallen, die auf den ersten Blick bemerkenswert scheinen. Etwa dass ein Mann vom Ufer der Donau kommt, aus Deutschland ein großes Reich macht, aber am Ende doch scheitert. Es gibt für solche (und einige andere Auffälligkeiten) aber auch alternative Erklärungen. Beispielsweise könnte es aus dem Blickwinkel von 1916 gesehen auch eine Anspielung auf die Donaumonarchie sein: im Jahre 1916 standen habsburgische und deutsche Truppen gemeinsam weit vorgeschoben in Russland. Die Aufteilung Deutschlands in Kleinstaaten mag man aus der Perspektive von 1916 als frommen Wunsch bezeichnen (ein für Frankreich vorteilhafter Rückschritt ins 19. Jahrhundert). Aus der Perspektive von 1939 wäre es eine kühne Prophezeiung, die wenigstens ansatzweise eingetroffen wäre (Teilung in Besatzungszonen).

Damit endet aber auf jeden Fall die prophetische Qualität der Odilienweissagung. Sie reicht nicht weiter als bis zu dieser Niederlage Deutschlands und der darauf folgenden Friedenszeit. Wie immer man die Prophezeiung also einordnet und interpretiert, für unsere eigene Zeit ist sie wertlos. Denn ihre letzten Worte (Antichrist etc.) sind wieder Standardfloskeln. Kein Einfall der Russen, keine seichten Flüsse, keine feuerspeienden Berge.

Fazit: die Odilie ist keine echte Prophezeiung sondern ein Machwerk, deren Entstehung 1916 genauso wie die Wiederverwendung 1938 sich aus zeitgebundenen Intentionen heraus erklären lässt. Von daher sind eventuelle Beziehungen zum „prophetischen Franzosen“ der Feldpostbriefe zwar möglich aber eher unwahrscheinlich. Für unsere eigene Zeit hält sie keine Aussagen bereit und braucht deshalb nicht weiter beachtet werden.

Ich habe vor, noch etwas zu Loius Emrich sowie zu den beiden anderen von ihm 1938 zitierten Prophezeiungen zu schreiben (Maria Laach und Marienthal), kann jedoch nicht sagen, wann ich dazu kommen werde. Es handelt sich ohnehin um rein quellenkritische Überlegungen, die für die Praxis der Vorbereitung oder für die Beurteilung unserer gegenwärtigen und künftigen Situation keinerlei Aussagewert haben.

Einen schönen Sonntag wünscht Sagitta.

PS: Meine obigen Überlegungen beruhen auf dem Text der Odilienweissagung, wie er von Emrich zitiert wird. Dieser Text ist identisch mit den Zitaten, die man in der französischen Literatur findet (siehe LINK unten). Den gesamten Text des Buches von Georges Stoffler kenne ich nicht (das Buch hat ca 60 Seiten, die Prophezeiung selbst nimmt allenfalls zwei Seiten ein). Ich gehe davon aus, dass Randomizer den gesamten Text hat (er ist in deutschen Bibliotheken nicht mehr vorhanden - was sehr selten ist, aber auf die Ächtung dieses Textes bereits im Ersten und dann wieder im Zweiten Weltkrieg zurückzuführen sein wird). Randomizer mag mich korrigieren, wenn ich falsch liege und Stoffler in seiner Schrift von 1916 noch weitere, mir unbekannte Zitate aus der fiktiven Odilie-Quelle bringt.

Betrachtungen (2013) zur Odilienprophezeiung und zu ihrer Wirkgeschichte inklusive Quellentext von Stoffler.


https://archive.org/stream/LaProphetieDeSainteOdile/La%20proph%C3%A9tie%20de%20sainte%20Odile_djvu.txt

http://www.persee.fr/doc/ahess_0395-2649_1946_num_1_3_3227_t1_0285_0000_2

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http://www.zvab.com/Prophetie-Sainte-Odile-Guerre-notes-commentaires/255338021/buch


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