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Ursprung und Verbreitung des Liedes streng logisch betrachtet (Schauungen & Prophezeiungen)

Taurec ⌂, München, Montag, 07.09.2015, 13:16 (vor 3126 Tagen) @ JohnDoe78 (6923 Aufrufe)
bearbeitet von Taurec, Montag, 07.09.2015, 13:23

Hallo!

Es ist also denkbar, dass Adlmaier kein Schwindler war und es sich bei der Familie um die Hingerls handelt, die Ihren Ursprung und Familiensitz in Neuhofen (bei Passau) hat bzw. zu Zeiten Adlmaiers bereits in Passau ansässig waren(sind). Dies müsste man prüfen, was mir in der Kürze der Zeit nicht gelungen ist. Ich finde es zumindest sehr interessant.

Hingerl betrieb einen kleinen Privatverlag in Freising, von dem nur bekannt ist, daß er Hingerls Gedichte und drei Schriften über die Weimarer Steuergesetzgebung von Joseph Ecker gedruckt hat.

Die Hingerls sind in der Gegend zwischen Freising und Traunstein tatsächlich am dichtesten verbreitet. Das macht es aber lediglich wahrscheinlich, daß Adlmaier mit einem Hingerl oder Martin Hingerl in Kontakt kam, dessen Schriften in die Hände bekam oder über diese Ecke das Lied kennenlernte. Damit ist nicht bewiesen, daß das Lied älter als 1920 wäre, bzw. ein anderer als Martin Hingerl der Verfasser.

Darüber hinaus schrieb Adlmaier in der zweiten, vollständigen Veröffentlichung des Liedes durch ihn:

"Dieses Gedicht wurde uns von befreundeter Seite zur Verfügung gestellt mit dem Bemerken, daß es sich seit über hundert Jahren im Besitz einer Passauer Familie befand. Zwei Zuschriften aus Unterfranken haben uns davon überzeugt, daß es sich bei dem Gedicht und das sogenannte Lied der Linde von Staffelstein handelt."

Dem läßt sich entnehmen, daß Adlmaier persönlich keinen Kontakt zu der angeblichen Passauer Familie hatte (deren Existenz ich bestreite), sondern von einem nicht genannten Mittelsmann den Text bekam, sowie daß ihm ursprünglich keine Informationen über die Beziehung der Prophezeiung zur Staffelsteiner Linde vorlagen, denn die Verse des Liedes, die darauf hindeuten, fehlen in der ersten Adlmaierfassung.
Es ist nicht feststellbar, ob dies alles Teil der Schwindelei Adlmaiers ist, um eine Entdeckungsgeschichte zu konstruieren, oder ob ihm tatsächlich eine unvollständige (und zudem vom Original stellenweise abweichende) Abschrift des Liedes zugespielt wurde.

Außerdem schreibt er:
"Dieses Gedicht oder Lied soll in einer uralten Linde gefunden worden sein, die in einem Hohlweg beim Eingang von Staffelstein im Frankenland steht. Der Text ist teilweise verstümmelt oder verändert. Durch zwei Zuschriften aus Franken sind wir in der Lage, das Gedicht, das über hundert Jahre im Besitz einer Passauer Familie ist, zu ergänzen."

Nach Stand der Kenntnis ein völlig erfundenes Märchen.

Und:
"Über das Alter der Prophezeiung gehen die Meinungen auseinander, aber sicher ist dieses merkwürdige Lied mit 33 Vierzeilern aus der Zeit vor 1900 überliefert, und zwar etwa um die Jahre 1850. Eine ‚Korrektur’ des Textes, etwa zu einem späteren Zeitpunkt, ist ausgeschlossen, da die Verse sorgfältig überliefert worden sind."

Nach dem, was wir wissen, ist das völlig falsch. Die Meinungen über das Alter der Prophezeiung gehen nicht auseinander (das tun sie erst seit Adlmaiers Behauptungen). Es ist nicht für die Zeit vor 1900 belegt. Die Verse wurden nicht sorgfältig überliefert. Das sind bloße Behauptungen, für die Adlmaier keine Belege liefert.

Dann zitiert Adlmaier eine der beiden fränkischen Leserzuschriften:
"Ich besitze diese Prophezeiung ebenfalls, und zwar seit dem Jahre 1926, wo sie mir von heute unbekannter Hand zuging, doch hat die meinige eine wesentlich vollkommenere Fassung, das heißt, in der Hauptsache hat sie den wortgetreuen Text, wie bei Ihnen auch, hat aber noch dazu einen sogenannten Vorgesang und geht am Schluß noch fünf Vierzeiler weiter und hat auch einen rechten Schluß. Der Titel meiner Prophetia lautet: ‚Der alten Linde Sang von der kommenden Zeit’. Dabei ist die Linde gemeint, die am Hohlweg steht, der zum Staffelberg führt, genauer gesagt, am Friedhof der Stadt Staffelstein. Ich habe diese Linde aufgesucht und alles genauest bestätigt gefunden, nur die Staffelsteiner Bevölkerung wußte wenig oder nichts darüber, wie das ja häufig der Fall."

Diese Zuschrift scheint echt zu sein. Nicht nur der Name der Veröffentlichung paßt zu Hingerls Druck, sondern auch das Jahr des Erhalts 1926 und die Angaben über den Standort der Linde, die wörtlich mit Hingerls Bemerkungen übereinstimmen (siehe unten). Aber auch der Franke wußte wohl nichts über den ursprünglichen Druck. Offenbar hat man das Lindelied bereits in den Zwanzigern unter der Hand als Abschrift verbreitet, allerdings ohne den Namen des Autors zu nennen, wahrscheinlich um es sagenumwobener zu machen.
Daß man in Staffelstein nicht darüber wußte, verwundert nicht weiter. Das Lied ist irgendwo in der Freisinger Gegend entstanden (laut Hingerln in Weihenstephan im Oktober 1920). Von ihrem Glück, Pate für eine erfundene Weissagung zu stehen, wußten die Staffelsteiner natürlich nichts. Immerhin dürfte Hingerl in Staffelstein schon mal gewesen sein oder Kontakte dorthin besessen zu haben, da ihm die Existenz des Baumes bekannt war.

Wenn man an die Sache mit kriminologischer Genauigkeit herangeht und nach den Gesetzen der Logik beurteilt, muß man konstatieren:
Es ist möglich, daß Adlmaier eine oder mehrere Abschriften des Liedes zugespielt wurden, ohne daß Hingerl als Autor dabei genannt wurde. Indem er aber zugleich eine ominöse Entstehungsgeschichte aus der Zeit um 1850 verbreitete, hat er sich hochgradig unredlich verhalten. Die Geschichte wurde entweder von ihm erfunden - dann ist er ein Betrüger - oder er hat sie im für die Bewertung seiner Person günstigsten Falle einfach nicht nachgeprüft und ungeprüfte Behauptungen anderer verbreitet, was seinem Renomee als Journalisten (!) erheblichen Schaden zufügt.

Hier sind noch die Anmerkungen Hingerls zu seiner eigenen Schöpfung:
[image]

Daraus lässt sich schließen:
Hingerl kannte Prophezeiungen, glaubte an sie. Daß er selbst nicht über alle Aspekte und Bedeutungen des Liedes bescheidwußte, entspricht der Tatsache, daß er andere Prophezeiungen interpretativ verarbeitet hat.
"Fides intrepida", "Pastor angelicus", das sind die Mottos aus der Malachiasfälschung, die später den Päpsten Pius XI. (1922 - 1939) und Pius XII. (1939 - 1958) zugeordnet wurden. Hingerl ging also davon aus, daß sich die Prophezeiungen in der allernächsten Zukunft erfüllen würden. Von einem später tatsächlich stattfindenen 21. Konzil wußte er ebenfalls nichts, weswegen es bei ihm das Konzil ist, welches alle Dinge wieder ins Lot bringt, während das echte 21. Konzil die traditionelle Kirche vielmehr vernichtet hat.
Aus den Anmerkungen geht übrigens auch hervor, wie "Femt den Gottesstreit vors nah’ Gericht." gemeint ist, nämlich völlig banal als Völkerbund, in dem der Papst das Sagen hat.

Gruß
Taurec


„Es lebe unser heiliges Deutschland!“

„Was auch draus werde – steh zu deinem Volk! Es ist dein angeborner Platz.“


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